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 KUNST
Zustand der Ruhe
Die große Wand
Unter Grund
Eine Bronzebüste entsteht
Metamorphosen
Aber die Kunst bleibt
Die Forderung des Raumes
Uelzener Fensterstreit

EINE BRONZEBÜSTE ENTSTEHT
 

Eine Bronzebüste entsteht

Die Hitze eines Sommernachmittags. Der runde Tisch im Schatten des alten Hauses ist vorbereitet. Kaffeetassen, die Thermoskanne, Saftflaschen und Gläser. Mühsam schiebt die alte Dame ihre Gehhilfe vor sich her. Josepha hilft, auf den Gartenstuhl zu kommen. Hier ist es auszuhaltern. Georg schenkt den Kaffee ein, Josepha trinkt Wasser. Man beginnt zu plaudern. Belangloses.

Genau, etwas kritisch, aber freundlich betrachtet Georg sein Gegenüber. Die weißen Haare leuchten auch im Schatten. Ein paar Meter weiter zeichnet die Sonne hart und holzschnittartig, hier aber geben die scharfen Falten des lebhaften, schmalen Gesichts mit den wachen Augen jede Feinheit preis. Noch ein prüfender Blick, dann steht Georg unvermittelt auf, geht ein paar Schritte zurück durch die große Glastür, greift zum Modellierholz und bearbeitet den leicht getrockneten Ton der Büste. Mit der Tonschlinge schabt er etwas Ton ab. Die rechte Wange wird schmaler, das Jochbein tritt schärfer hervor. Die senkrechte Falte links neben dem Mund wird mit dem Modellierholz eingegraben und erhält mit dem kleinen Spachtel ihre Schärfe. Georg kommt zurück zum Kaffeetisch, nimmt einen Schluck, das Gespräch geht weiter.

Der Vorgang wiederholt sich mehrmals. Wie auf der Lauer beobachtet Georg das Gesicht der alten Dame, springt auf, tritt an den dreibeinigen Modellierbock und arbeitet weiter. Begonnen hatte Georg mit einer Fotoserie, als erste Annäherung an das Gesicht. Danach hatte er den großen, noch unförmigen Tonklumpen auf den Modellierbock gepackt, um einen senkrechten Metallstab herum, von dem waagerechte Metallbleche, die sogenannten Schmetterlinge, ausgingen. Das Metallskelett soll dem Ton Halt und Stabilität geben. Erst in der zweiten Sitzung nähert sich der rundliche Kopf mit dem zunächst pummeligen, infantilen Gesicht und den Pausbacken langsam seinem Vorbild an, wird schlanker, härter und erhält mit den Falten die Würde des Alters. Das reiche Leben, das dahinter steht, beginnt man zu ahnen. Mit der Hilfe Josephas erhebt sich die alte Dame, schiebt ihre Gehhilfe ins Atelier. „Jetzt erkenne ich mich wieder. Das ist erstaunlich, wie Sie das machen. Damals, vor dem ersten Mal, war ich beim Friseur. Das sieht man der Büste noch an. So lange könnten die Dauerwellen bei mir auch mal halten. Viel Geld würde ich sparen.“

Wieder am Tisch, reicht Georg Gebäck, Kringel mit grobem Zucker bestreut. Dann holt er aus dem Haus einen Badener Rotwein. Josepha bleibt beim Wasser. Sie muss fahren. „Erstaunlich, wie Sie das machen“, wiederholt die alte Dame. „Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut nach den Metalldingern, die Sie vor zwei oder drei Jahren bei mir im Garten aufgestellt haben.“ Wie ein Rohrspatz hatte sie geschimpft, damals. Jedem, der es hören wollte, und jedem, der es nicht hören wollte – denen war es peinlich – hatte sie gesagt, dass Kunst nur sei, was man erkennen könne. Das hier aber sei scheußlich.

Der Rotwein ist kühl, was zum Sommer gut passt, und er ist nur halbtrocken, was zum Kaffee harmoniert. Das Gespräch wird lebhafter. Was das sei, fragt die alte Dame und deutet auf die abstrakte Metallplastik neben dem Gartentisch. „Das will ich jetzt doch wissen.“ Das brauchte man Georg nicht zweimal zu fragen. Ein Berg sei das, etwas Aufgerichtetes und damit eine Stele, aber auch der Anfang des Tals. Der Raum neben der Stele gehöre mit zu der Plastik, denn die Leere, wie Parmenides schon gesagt habe, gebe es nicht. Der Antwort ist anzumerken, wie intensiv sich Georg mit diesem philosophischen Problem auseinandergesetzt hat.

Wie viele Büsten er wohl schon gemacht habe, ist die nächste Frage der alten Dame. „Das weiß ich gar nicht“, antwortet Georg, „vielleicht 20 oder 25 im Laufe der Jahre.“ Aber wenige Frauen seien dabei gewesen, wohl nur zwei. Aus der Mode gekommen sei es, sich porträtieren zu lassen. Sich malen zu lassen, sei selten geworden, sich modellieren zu lassen, noch viel seltener. Das hänge wohl mit dem Siegeszug der Fotografie zusammen. Ein plastisches Porträt in Auftrag zu geben, sei nicht mehr selbstverständlich, sondern etwas ganz Außergewöhnliches, Prätentiöses. Ganz zu unrecht. Mit der Stärkung des Individuums sei auch seine Relativierung einhergegangen. Skepsis und Selbstzweifel aber seien keine guten Voraussetzung, ein Porträt von sich in Auftrag zu geben.

Auch die alte Dame beginnt zu erzählen. Ihre größte Freude sei es, noch zu erleben, dass ihr Garten fortbestehe und gedeihe. Ihre größte Sorge sei gewesen, dass der Garten, ihr Lebenswerk, zerstört werden könnte. Ein drohendes Beispiel habe sie immer vor Augen gehabt. Püzchens Mutter habe ebenso wie sie selbst nach dem Krieg einen wunderbaren Garten angelegt, der dann bald nach ihrem Tode verkauft und vernichtet worden sei. Um das zu verhindern, habe sie für ihren eigenen Garten eine Stiftung gegründet. Es ist der alten Dame zu wünschen, dass in ihrem Umfeld Verständnis und Hilfsbereitschaft die Gleichgültigkeit und Ignoranz überwiegen, damit der Garten tatsächlich auf Dauer erhalten bleibt.

„Und wie geht es weiter mit der Büste?“ will die alte Dame jetzt wissen. Georg berichtet. Wenn der Ton fertig modelliert ist, nach vier bis fünf, manchmal mehr Sitzungen, mit zeitlichem Abstand, um wieder Distanz zu gewinnen (wir sind mal gerade bei der dritten), dann wird der Korpus mit Silikon bestrichen. Eine gummiartige Silikonform entsteht, die einen Gipsmantel erhält, um sie zu stützen. Dabei wird um den Kopf herum, senkrecht zu ihm, eine Trennschicht aus dünnen Blechen eingebaut, ein Blechkranz, damit man die Schale nach dem Trocknen in zwei Hälften abnehmen kann. Ist das geschehen, werden die Schalenhälften um die Silikonform mit der exakten Abformung des Tonkopfes herum wieder zusammengesetzt. Die Form wird nun von unten, vom Hals her, mit flüssigem Gips gefüllt. Dabei wird der Kopf geschwenkt, damit der Gips in jeden Winkel der Form gelangen kann. So entsteht nach dem Tonkopf ein Gipskopf.

Dieses Gipspositiv bringt Georg in die Gießerei. Dort wird es mit feinem, flüssigem Ton bestrichen und mit einem Mantel aus Gips und feuerfestem Sand umgeben. Auch diese Schale wird in zwei Hälften abgenommen und dann in ca. 5 mm Stärke mit Wachs ausgepinselt. Das Innere wird mit einem Schamottkern gefüllt, der mit Metallstäben an der Schale arretiert ist. Die Form erhält außerdem einen in Wachs vorgeformten Trichter, durch den vom Hals her Bronze eingefüllt werden kann, und sogenannte Steiger, kleine Wachskanäle, durch die beim Guss Luft und Gase entweichen können. Die Vorarbeiten sind damit abgeschlossen. Der Bronzeguss, der bei etwa 700° Hitze drei Tage dauert, kann beginnen. Beim Guss kommt es darauf an, dass weder Blasen noch Schaum entstehen. Danach wird die Schamottform abgeschlagen, weswegen dieses Verfahren auch Guss in der verlorenen Form heißt. Dort, wo die Steiger waren, ragen jetzt Bronzestäbe aus dem Kopf, die abgesägt werden müssen.

Die restliche Bearbeitung übernimmt Georg wieder: Mit kleiner Flex, Feilen und Fräsen wird die Bronze überarbeitet. Die bräunliche Oberfläche, die Gusshaut, wird mit Salpetersäure abgebeizt. Eine goldene, recht ausdruckslose Oberfläche kommt zum Vorschein. Mit einem Propangasbrenner und Schwefelleber, Schlipschem Salz oder Kupfernitrat schafft Georg die gewünschte Patina. Je nach der Wahl des Mittels, Intensität und Dauer der Bearbeitung kann sie grün, rötlich, bräunlich oder schwarz werden.

Wenige, meist kleinere Betriebe haben sich auf den Bronzeguss spezialisiert. Georg vertraut seine Arbeiten der Gießerei Wittkamp in Elmenhorst an, einem gediegenen Familienbetrieb im südlichen Hostein. Während die fertigen Bronzebüsten an die Auftraggeber ausgeliefert, manchmal privat und manchmal öffentlich aufgestellt werden, bleiben die Gipsköpfe meistens bei Georg. Sie stehen zwischen den anderen Kunstwerken, den Stahl- und Holzplastiken, den Bronzen und Gemälden.

Was sind das für Menschen und welche Motive mögen sie bewogen haben, sich porträtieren zu lassen? Ein Stück Eitelkeit ist schon im Spiel, auch Selbstbewusstsein und das Gefühl, es sich und anderen wert zu sein, für die Nachwelt in Bronze erhalten zu bleiben. Bescheidenheit und Selbstzweifel wollen erst einmal überwunden sein. Beim näheren Hinsehen entdecken wir eine Galerie der Provinz, nein, der Region, wollen wir freundlich sagen. Es sind Persönlichkeiten, die man kennt, in der Umgebung. Etliche von ihnen leben unter uns, andere, die meisten von ihnen, sind schon verstorben. Und bei einigen denken wir spontan: schön, dass sie uns in Bronze erhalten sind. Den Verleger erkennen wir, einen Landrat, den Versicherungschef und den Radiohändler, einen Bürgermeister, auch den Musikwissenschaftler und den Theaterbegeisterten. Es sind Menschen, die etwas darstellen. Die bessere Gesellschaft? „Ach was“, wehrt Georg ab, „bei Einigen ist die Initiative von mir ausgegangen. Ich habe ihnen vorgeschlagen, sie zu porträtieren, weil ich sie mochte und weil mir ihr Kopf interessant erschien, ohne jeden Zwang, dass daraus ein Auftrag für einen Bronzeguss folgen müsste. Für mich sind das plastische Porträts als Charakterstudien. Die Kunst steht im Vordergrund. Ich bilde ja die Wirklichkeit nicht naturgetreu ab. Ich hole Wesenszüge hervor, die mir wichtig erscheinen. Ich reflektiere, setze um und abstrahiere, ohne dass die Erkennbarkeit verloren geht. In Publikationen steigere ich den Grad der Abstraktion, indem ich Teile der feinen Tonschicht an den Bronzeköpfen belasse. In meinem großen Katalog ist das gut zu sehen.“

Und was ist mit der sozialen Auswahl, haben Obdachlose oder Landarbeiter nicht manchmal die markanteren Schädel? Mit ihnen zu arbeiten, kann einem Künstler mehr Erfahrungen bringen. Georg erinnert daran, dass er eine Zeit lang Strafgefangenen Kurse gegeben hat. Aber die Annäherung erfolgt von zwei Seiten. Mit höherer Bildung oder sozialer Stellung werden der Wunsch und die Wahrscheinlichkeit einfach größer, einen Künstler kennenzulernen. Dahinter steht das Interesse an der Kunst ebenso wie das Kalkül, seine gesellschaftliche Stellung durch den Umgang mit Kunst und Künstlern öffentlich zu machen. Beides ist am Publikum jeder Vernissage abzulesen, und es ist an Georgs Galerie der Köpfe zu beobachten. Die Köpfe stellen etwas dar.

Darüber lässt sich bei Kaffee und Rotwein trefflich schwadronieren, ganz ungezwungen und freimütig, zumal die alte Dame, die hier Modell sitzt, von dieser Problematik meilenweit entfernt ist. Sie musste erst einmal davon überzeugt werden, von sich eine Büste herstellen zu lassen. Zu ihrem arbeitsreichen Leben in Bescheidenheit wollte das so gar nicht passen. „Von mir ein Denkmal, wer bin ich denn?“ hatte sie gesagt. „Von meinem Vater gibt es eine Bronzebüste von Eichhorn. Die muss irgendwo in Berlin stehen. Der hatte etwas drin in seinem Kopf und hat etwas geleistet. Aber ich?“ Erst allmählich und widerstrebend nahm sie die Einsicht an, dass sie es Wert sei, in ihrem Lebenswerk, dem Garten, der ihre Handschrift trägt und ihre Geschichte spiegelt, auch in Bronze gegenwärtig zu bleiben. Und ein bisschen stolz ist sie jetzt schon, dass ein Bildhauer ihre Büste formt.

Beide, der Bildhauer und sein Modell, öffneten sich im Laufe der Gespräche, lernten sich kennen und schätzen. Georg Münchbach porträtierte Christa von Winning.

2005