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 FOTOGRAFIE
Fotografien von Achim Schoepe
Stand Ort 69,7
Am Elbe-Seitenkanal

STAND ORT 69,7
 



 

Stand 0rt 69,7 oder Annäherung an Heimat
Ein fotografischer Essay

Der Reiz der Märchen ist das Vertraute. Vom ersten Vorlesen in Kindertagen wissen wir, wie die Geschichte läuft. Jede Abweichung wird bemerkt und mit Protest zurückgewiesen. Das Wiedererkennen ist das Erlebnis. Das gilt auch für geografische Nähe. Kommt dazu noch die Nähe zu Menschen, ist es Heimat.

Der Reiz der Ferne ist das Neue. Erleben, Kennenlernen, Vergleichen, daraus wachsen Urteile und Maßstäbe. Das Neue einschätzen zu können, setzt den Fundus des Bekannten voraus. Um das Naheliegende zu werten, ist der Blick über den Tellerrand nötig. Die skurrilsten Weltanschauungen haben die, welche die Welt nicht kennen. Provinz ist längst nicht mehr geografisch zu orten. Sie steckt in den Köpfen, in denen die Maßstäbe zu klein geraten sind.

Wer um sich herum alles zu kennen meint, hat verlernt zu sehen, zuzuhören, zu vergleichen, also kennenzulernen. Ihren Charakter gewinnt die vertraute Landschaft erst im Unterschied zu anderen Landstrichen. Ihr Anblick ist nicht statisch. Sie ändert das Gesicht im Laufe eines jeden Tages, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. In längeren Fristen vollzieht sich ein Wandel, den zu registrieren aus dem Beobachter einen Chronisten macht. Hier verschwindet ein Feldrain, ein Wäldchen oder ein altes Gebäude, dort wächst ein Neubau oder eine Straße. Zum Besseren gerät die Veränderung manchmal, zum Schöneren fast nie.

Lässt man sich auf Details ein, öffnet sich eine unendliche Vielfalt. Zum scheinbar Bekannten tritt überraschend Neues. Nicht nur die Wissbegierde wird befriedigt, Einzelheiten und vergrößernde Ausschnitte haben ihren ästhetischen Reiz. Einerseits entfalten alltägliche Motive ihre Poesie, andererseits verstärkt jeder Ausschnitt die Abstraktion.

Die Bildersprache der Fotografie ist nur auf den ersten Blick naturgetreu. Sie entfernt sich viel weiter von der Wirklichkeit als es scheint. Sie reduziert die Dreidimensionalität auf zwei Dimensionen, gefriert Bewegung zum Augenblick. Jedes Bild ist eine isolierte Einheit. Der Fotograf verändert die Realität durch die Wahl des Ausschnitts, des Blickwinkels und der Perspektive, durch Kontraste, Schärfen und Unschärfen. Zwischentöne anstelle satter Farben fördern die differenziertere Sicht. Noch weiter geht die Abstraktion in Schwarz-Weiß. Wenn dieses Stilmittel hier nicht gewählt wurde, so um zum Beispiel auf die warmen Farben der Backsteine oder auf die Farben der Jahreszeiten nicht verzichten zu müssen.

Gerade bei all zu schönen fotografischen Aufnahmen liegt die Grenze zum Kitsch ganz nahe. Die Abkehr vom Strahlenden, Glatten und scheinbar Perfekten vermag den süßlichen Geschmack zu dämpfen. Verfall und Brüchiges als Motive können Vergänglichkeit ausdrücken. Auch Morbides erhält seinen Reiz. Spiegelungen in Glas und Wasser brechen zusätzlich die Realität. Das alles kann das Schöne davor bewahren, zum Kitsch zu mutieren.

Geht es noch dazu um das Thema Heimat, sind Brechungen und Reflexionen um so dringlicher. In der Geschichte haben die Nazis diesen Begriff gründlich pervertiert. Heutzutage wird er von der Pseudofolklore und den Heimattümlern, von der „volkstümlichen“ Musik und der Tourismuswerbung kräftig verbogen.

Stand Ort 69,7, die sachliche Ortsangabe im Titel der Fotoserie, kann als Mittel zur Ausnüchterung dienen. Es ist schlicht eine Kilometermarke am Elbe-Seitenkanal bei dem kleinen Ort Ripdorf. Befreit von unechtem Sentiment, wird der Blick unbefangen und frei für die Schönheit der Umgebung. Einiges von dem, was im nahen Umkreis um diesen Punkt zu entdecken war, ist fotografisch festgehalten worden: Die einfach schöne Landschaft zu verschiedenen Jahreszeiten, im zeitigen Frühjahr, Herbst noch schöner, im Winter noch stiller als im satten Grün des Sommers. Die Vielgestalt der Bäume von der biegsamen Weide bis zur knorrigen Eiche. Die Stämme mit ihren Narben, Flechten und Moosen. Die Form der Blätter mit ihren Adern und den Spuren der gefräßigen Raupen. Die Blüten und Früchte. Der Kanal selber mit den Spiegelungen im Wasser, mit den Schiffen, den Industriebauten am Hafen, mit den unscheinbaren Dingen wie dem Gegengewicht der Schranke oder dem Pfahl als Kilometermarke.

Weitgehend sind es die Spuren der Menschen, die das Bild der Landschaft bestimmen. Die Bäume wurden gepflanzt, die Wälder sind Forsten. Äcker dehnen sich aus mit den Furchen des Pfluges, der zarten Saat, dem wogenden Getreide oder den Stoppeln unter dem hohen Himmel. Die großen Strohrollen in der Landschaft üben stärkere Reize aus als die Landart manchen Künstlers.

Die Gebäude hinterlassen zwiespältige Eindrücke. Nicht zufällig ist das älteste Wohnhaus auch das schönste im gewählten Umkreis. So alt ist es noch gar nicht, ein Bauernhaus aus dem Jahr 1885, aber kein Niedersachsenhaus mehr mit Wohnung und Stall unter einem Dach. Die warmen Farben der Backsteine und Dachziegel leuchten schon von Ferne. Die Proportionen tun wohl und die freundlichen Sprossen bewahren die Fenster davor, hohläugig zu wirken. Auch auf dem Nachbarhof ersetzte ein Neubau, 1921 noch aufgestockt, ein Niederdeutsches Hallenhaus, bot mehr Komfort, repräsentierte Modernität und den Wohlstand seiner Zeit. Einige spätere Änderungen gereichten dem stattlichen Gebäude nicht nur zum Vorteil und mit dem kleinen Park geht es abwärts, seit die Bäuerin mit ihrer Gartenliebe hier nicht mehr wohnt. Auch zum dritten Bauernhof gehörte ein Hallenhaus, das einem modernen Zweckbau, dem Haus als Kasten, weichen musste.

Die zwei kleinen Backsteinhäuser, die zu Bauernhöfen gehören, fügen sich gut in das kleine Dorf. Es fällt auf, dass auch hier das ältere dieser Häuschen das schönere ist mit liebevollen Zierelementen in den Backsteinmauern. Durch das Zumauern eines Fensters wurde es entstellt. Auch das zweite, ein einfaches Haus, hat mit seinen Proportionen, den Fenstern und der Eingangstür, die durch den gemauerten Sturz optisch höher erscheinen, in aller Schlichtheit seinen eigenen Charakter. Es ist ein Jammer, dass die Türhöhe verringert und der Standardgröße einer unsäglichen Tür aus dem Baumarkt angepasst worden war. Die kleinen Anbauten tun ein Übriges, um die Qualitäten des Hauses zu verstecken. Von den übrigen kleinen Häuschen im Dorf fällt eines dadurch auf, dass es in einer wahren Betonorgie verfremdet wurde.

Das halbe Dutzend neuerer Wohnhäuser ist kaum der Rede wert. Einige passen sich nach Form und Baumaterial an, andere stören das Bild des kleinen Bauerndorfes und würden jeder gesichtslosen Vorstadt gut anstehen. Auch im Inneren kommen Stil und Atmosphäre oft zu kurz. In Neuripdorf, am Stadtrand von Uelzen und Gott sei Dank nicht im alten Bauerndorf, springt ein protziger postmoderner Neubau mit Bögen und Erkern, grün glasierten Dachpfannen und vergoldeten Kugeln auf den Zaunpfeilern ins Auge als auffälliges Zeugnis des Reichtums an Geld und der Armut an Geschmack seines Bauherrn.

Zurück zu den traditionellen Bestandteilen des Ortes: Was bei den Bauernhäusern zu beobachten war, hätte ebenso bei den Wirtschaftsgebäuden registriert werden können. Dass die roten Dachziegel einer Scheune den Sonnenkollektoren weichen mussten, ist noch verständlich. Viele andere Veränderungen sind es nicht. Die ästhetische Qualität der Neubauten nimmt im Laufe der Zeit ab und die Umbauten sind häufig brutale Eingriffe. Woran mag das liegen? Natürlich stehen hinter dem Wandel auch wirtschaftliche Veränderungen und Zwänge zur Modernisierung ebenso wie der Wunsch, mit der Zeit zu gehen. Aber ist es nicht auch Ausdruck der Loslösung von baulichen und handwerklichen Traditionen wie von Traditionen und historischem Bewusstwein überhaupt? Wie kommt es, dass historische Bauensembles so harmonisch wirken, in heutigen Gebäudegruppen aber regelmäßig stillose und einfallslos Bauten vorkommen? Es ist doch nicht anzunehmen, dass das ästhetische Empfinden der Menschen generell abgenommen hätte. Könnte es dann nicht sein, dass früher die starke Bindung an Traditionen zu traditionsgebundenen Bauformen und bewährten Standards geführt hat, heute aber die größeren Freiräume des Einzelnen zu individuellen architektonischen Leistungen, aber ebenso zu peinlichen Fehlleistungen führen können? Die traditionelle Bindung setzte zwar Grenzen, aber sicherte auch die Qualität. Dass vielen Erwachsenen ästhetisches Empfinden fehlt und musische Bildung in der Ausbildung unserer Kinder zu kurz kommt, auch das mag man an den Gebäuden ablesen können. Die Selbstverwirklichung des Bauherren kann ihm zur Ehre gereichen, aber auch zu seiner Bloßstellung führen.

Der Charakter der älteren Bauten zieht den Fotografen an. Und hier sind es die Details wie Fenster, Beschläge, Mauerpartien oder gar einzelne Backsteine mit den Narben des Alters, die ihre Poesie entfalten. Einzelne Gärten mit ihren Pflanzen und der Kunst von den obligatorischen Gartenzwergen, den Glas- und Keramikkugeln bis hin zu ungewöhnlichen Skulpturen geben Anlass zur Freude, zur Überraschung oder auch zum Schmunzeln.

Es ist eine Fülle von Motiven: Die liebliche und stille Landschaft, die Bäume, Blätter und Blüten, die Spiegelungen und Brechungen im Wasser des Kanals oder in den Scheiben der alten Fenster, dazu die Gebäude, Mauerteile, die Spuren des Alltags und schließlich die Menschen, die sie hinterlassen haben. Das alles hätte so ähnlich auch woanders beobachtet werden können. Es sind farbige Mosaiksteine von ganz eigenem ästhetischem Reiz. Das Mosaik, das sie auf engem Raum ergeben, im Umkreis von Kilometer 69,7 am Elbe-Seitenkanal, ist von einfacher Schönheit– man könnte es Heimat nennen.

2005